Themenbeschreibung: Populäre Kultur und Literatur
„In Popkultur geht es nicht um Tiefe. Sie dreht sich um Marketing, Angebot und Nachfrage und Konsum.“ (Trevor Dunn)
„Populär ist, was bei vielen Beachtung findet.“
(Jörg Döring, Niels Werber, Veronika Albrecht-Birkner, Carolin Gerlitz, Thomas Hecken, Johannes Paßmann, Jörgen Schäfer, Cornelius Schubert, Daniel Stein, Jochen Venus, „Was bei vielen Beachtung findet: Zu den Transformationen des Populären“, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift, 6. Jg., Nr. 2 (2021): S. 1–24. DOI: https://doi.org/10.2478/kwg-2021-0027)
Allzu schnell rümpft man über populäre Kultur die Nase. Zu wenig Tiefe, zu wenig Können, keinerlei künstlerische Ambitionen etc., kurz gesagt: zu wenig Hochkultur – das sind die gängigen Vorwürfe. Die populäre Kultur sei zwar weit verbreitet – deshalb spricht man geradezu synonym auch von Massenkultur oder Kulturindustrie -, aber genau deshalb auch ohne Anspruch und Niveau; die Hochkultur dagegen sei anspruchsvoll, avantgardistisch, fordernd – und erreiche daher nur wenige Gebildete.
Dass dies nicht zutrifft, zeigt ein schneller Blick in die Statistik: Es gibt Werke der Hochkultur, die weit verbreitet sind und sogar als Bestseller zählen oder als Publikumsmagnet die Museen und Konzertsäle füllen. Und es gibt Produkte, die der Populärkultur zugeordnet werden wie etwa Comics, Heftromane, Filme und Songs, die kaum Beachtung gefunden haben und also nicht „populär“ genannt werden können. Zählen Daniel Kehlmanns Romane zur Populärkultur, weil sie Bestseller sind? Oder sollen Artefakte, die kaum bekannt sind, zur Populärkultur zählen, weil sie „kulturindustriell“ produziert worden sind?
Und warum sollte man populärkulturelle Artefakte, die von vielen Millionen rezipiert worden sind, deshalb weniger schätzen als Werke der Kunst, die kaum jemand kennt? Warum sollte unbeachtlich sein, was von vielen Beachtung gefunden hat und in diesem Sinne populär ist? Und warum sollten Werke, die unbeachtet bleiben, dennoch kulturell „mehr Wert“ sein, weil – wer tut dies eigentlich? Wie wird dies begründet? – sie zur „legitimen Kultur“ (Pierre Bourdieu) gezählt werden?
Welche Rolle spielt die Popularität in den Künsten und der Literatur? Einerseits lässt sich beobachten: Je populärer die jeweiligen Werke waren, desto erfolgreicher die Künstler:innen. Aber bedeuteten die Popularität und der damit einhergehende finanzielle Erfolg eines Kunstwerkes, sei es ein Comic, ein Film, ein Roman oder ein Lied im Umkehrschluss, dass es von minderer Qualität sei, da es dem Geschmack der Masse entsprechend ist?
Die Antworten auf diese Fragen sind umstrittener denn je. Comic- und Heftromanleser:innen rechtfertigen ihre Vorlieben souverän durch den Verweis, dass es sehr viele sind, die sie teilen – und verbinden dies nonchalant mit dem Hinweis, dass viele in der Schule oder in der Universität als kanonisch geltende Autor:innen quasi unbekannt sind und „freiwillig“ von niemanden gelesen werden. Sind Goethes Faust oder Stifters Brigitta überhaupt noch Werke der „gelesenen Literatur“ (Steffen Martus / Carlos Spoerhase)? Oder werden sie nur noch als Topoi der Hochkultur erinnert, aber nicht mehr rezipiert? Während zugleich Fan Fiction (von Harry Potter bis zum Lord of the Rings) millionenfach rezipiert werden und ein lebendiges Interesse an einer anderen Literatur belegen?
Zu beobachten ist einerseits ein Trend zur Legitimation durch Popularität. Selbst ästhetisch und moralisch strittige Werke werden dadurch gerechtfertigt, dass sie von vielen beachtet werden, dass sie Bestseller, Spitzenreiter, Top Hits sind. Dies ließe sich etwa an den Gedichtbänden des Rammstein-Sängers, „Dichters“ und Bestseller-Autors Till Lindemann zeigen. Und zu konstatieren ist andererseits eine Persistenz der Hochkultur, die sich in der Kritik derjenigen niederschlägt, die beachten, was keine Beachtung finden soll. Wer eine Band goutiert, deren Sänger gewaltpornographische Texte schreibt und vorträgt, verdiene Verachtung. Die „vielen“, die einer Sache zur Popularität verhelfen, werden herabgesetzt – was wiederum zu Konflikten führt, da diese „vielen“ sich genau damit rechtfertigen, dass es eben viele sind, die beachten, was populär ist: Warum sollte es schlecht sein, die Aufmerksamkeit einer Sache zu schenken, die schon so viel Resonanz gefunden hat? Diese Konflikte prägen die Debatte um Populärkultur und Hochkultur. Greifbar wird diese Problematik in der germanistischen Literaturwissenschaft in der von Moritz Baßler entfachten Debatte um Midcult oder dem Literaturstreit um den politisch umstrittenen Suhrkamp-Autor Uwe Tellkamp.
Die Literaturwissenschaft hat nicht nur den „Wert“, sondern auch die „Notwendigkeit“ der Erforschung des Populären erkannt. Eine Literaturwissenschaft, die einen großen Teil ihres Zuständigkeitsbereichs ignorieren würde, würde ihre Funktion nicht korrekt erfüllen.
Das 64. Kulturseminar der JGG möchte diesen Fragen nachgehen und hierzu Texte aus den Bereichen Ton, Bild und Schrift behandeln.
Gastdozent: Prof. Dr. Niels Werber, Universität Siegen (https://nielswerber.de)
Niels Werber ist Professor für Germanistik im Bereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereichs 1472 „Transformationen des Populären“
Er wurde 1990 an der Ruhr-Universität Bochum von Gerhard Plumpe und Friedrich Kittler zum Thema Literatur als System promoviert.
2000 habilitierte er sich ebenfalls an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema Liebe als Roman.
Seit 2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft I der Universität Siegen.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie der Literatur, historische Semantik und die Theorie des Populären. Ein Teilprojekt des SFB ist die Erforschung der „Serienpolitik der Popästhetik: Superhero Comics und Science-Fiction–Heftromane“, zusammen mit Amerikanisten Daniel Stein. Hierbei steht die SF-Heftromanserie Perry Rhodan im Mittelpunkt.
Für Niels Werbers ausführliche Vita siehe: https://nielswerber.de/vita/